Familie durch Adoption
Schon oft sind mein Mann und ich angesichts unserer besonderen Form der Familiengründung gefragt worden: „Welche Mutter könnte jemals ihr Kind weggeben?“ Und tatsächlich: Als Frau mit einem ausgeprägten Kinderwunsch habe auch ich mich häufig gefragt: Wie kann sich eine Mutter nur von einem so kostbaren kleinen Wesen nach der Geburt trennen – und das auch noch freiwillig? Nachdem uns der Arzt 2011 mit der Schocknachricht konfrontierte, dass mein Mann und ich niemals leibliche Kinder haben würden, begann für uns die knallharte Zeit, einem „Das kann nicht sein!“ entgegenzutreten. Kein süßes Baby würden wir liebevoll herzen können. Wir würden niemals Windeln wechseln, kein erstes Kinderlachen würde jemals uns gelten, kein klebriges Patschehändchen würde unser Gesicht berühren, kein kleiner Mund „Ich hab‘ dich soo lieb, Mami und Papi!“ lispeln, und Weihnachten 2040 würden wir allein unterm Tannenbaum sitzen. Als „Problemlöserin“, die für fast jede Herausforderung in zwei Minuten eine Auswegs-to-do-Liste niederschreiben kann, war vor allem die Hilflosigkeit mein größter Feind. Oft gerieten mein Mann und ich infolge dieses Frusts in Streitereien und Missverständnisse. Als der Mensch, der mir am nächsten steht, war er das „perfekte“ Gegenüber für all meinen Zorn, obwohl er nicht minder (wenn auch stiller) litt. Als besonderen Segen empfinde ich es im Nachhinein, dass die für den Kinderwunsch gängigen Alternativen der Fremdbefruchtung für uns beide nicht infrage kamen und auch jegliche Form der künstlichen Befruchtung von vornherein ausgeschlossen war. Niemals hätte ich den emotional und finanziell beschwerlichen Weg durchgestanden.
Ebenso einig waren wir uns jedoch auch irgendwann über die Möglichkeit der Adoption. Ganz leichtfüßig habe ich als junges Mädchen schon gesagt: „Wenn ich später mal keine Kinder kriegen kann, adoptiere ich halt welche.“ Dass es tatsächlich dazu kommen könnte, hatte ich natürlich nicht eingeplant. Doch wir beschlossen, genau diesen Schritt zu wagen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich hatte ganz und gar keine Glücksgefühle nach dieser Entscheidung. Grund dafür war nicht, dass wir insgeheim doch lieber ein leibliches Kind gehabt hätten. Es waren die Statistiken: 17 Kinder auf 150 Elternpaare – an diese entmutigende Auskunft für Adoptivbewerber erinnere ich mich nur zu gut. Es war zum Heulen. Auch andere (angebliche) Voraussetzungen ließen mich frustriert zurück: So konnte einem Paar sogar der Stadtteil, in dem es lebte, zum Nachteil gereichen, und andere Bewerberpaare, die wir bei einer Informationsveranstaltung trafen, wurden somit zur Eltern-Konkurrenz.
Nach einem Jahr erfolgloser Zeit auf der Warteliste der Adoptionsvermittlung, vieler geweinter Tränen, ehelicher Auseinandersetzungen, Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit beschlossen mein Mann und ich eines Tages: „Schluss damit!“ Wir buchten uns für einige Tage in einem Hotel ein, schlemmten und relaxten und waren mit Kugelschreiber und Papier beschäftigt – jeder für sich. Wir hatten keine Lust mehr, einem leeren Traum hinterherzujagen. So notierten wir neue Ziele: für uns persönlich, für uns als Ehepaar, für gemeinsame Projekte und Reisen. Das tat gut – endlich wieder wir, endlich wieder ich, endlich wieder leben.
Nur eine Woche später erreichte mich an einem Freitagabend der Anruf aus der Adoptionsvermittlung. Ein kleines Mädchen war zwei Wochen zuvor geboren und wartete auf neue Eltern. WIE BITTE? ABER WAS WAR DENN NUN MIT ALL DEN ZIELEN, DIE WIR UNS GESETZT HATTEN???
Unsere Tochter, die wir adoptiert haben, ist heute drei. Einem außerordentlich harten Lebensstart zum Trotz (neben der Trennung von ihrer leiblichen Mutter musste sie mehrere Male am Bauch operiert werden und lag viele Wochen unter Hunger, Durst und Schmerzen leidend im Krankenhaus) bereichert die kleine Heldin unser Leben mit ihrem süßen Lachen und ununterbrochenem Quasseln, einer Lebensfreude, die ihresgleichen sucht und vielen verrückten Streichen, die sie sich ausdenkt.
Je mehr ich diese kleine Persönlichkeit ins Leben begleiten darf, desto mehr wächst in mir die Ehrfurcht vor dem Leben. Diese kleinen Wesen sind so kostbar, individuell und wunderbar, dass jedes Baby – ob geboren oder ungeboren – des besonderen Schutzes von uns Erwachsenen bedarf. Kaum hatte ich beschlossen, mich genau diesem Kinderschutz zu verschreiben und mich bei vitaL ehrenamtlich einzusetzen, klingelte erneut die Adoptionsvermittlung an und berichtete von einem kleinen Jungen, der am Morgen geboren worden war. Ob wir uns vorstellen könnten, das Baby kennenzulernen. Meine Tochter schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an, so laut muss ich vor Freude geschrien haben, und rief: „Mama, mach Musik an, wir wollen tanzen!“ Sie hatte keine Ahnung, was geschehen war, merkte aber instinktiv, das musste der Knaller sein!
Und es WAR der Knaller, denn wie sich herausstellte, sind unsere beiden Kinder Geschwister! Wir konnten es kaum glauben. Die beiden haben tatsächlich dieselbe leibliche Mutter. So deprimierend die Statistiken und Aussichten auf dem Adoptionsweg gewesen waren, so absolut wundervoll verlief unsere Familiengründung im Nachhinein. Dass unsere Tochter mit ihrem Bruder gemeinsam aufwachsen und sie ihre Geschichte miteinander teilen dürfen, berührt und erleichtert mich zutiefst. Welch ein Geschenk! Auch wenn ich mir immer wieder Gedanken mache: Wie oft wird die leibliche Mutter voll Kummer nachts wach liegen und an ihre Kinder denken? Welches Elend hat sie zu dieser Entscheidung veranlasst? Stellt sie sich vor, wie die Kleinen aussehen, welche Charaktere und Besonderheiten sie haben? Welche Eigenschaften von ihr geerbt haben? Wieder einmal ist es prägnant, wie nahe Freud und Leid beieinanderliegen.
Zu Beginn habe ich die Frage aufgegriffen, wie eine Mutter ihr Kind weggeben kann. Ich stelle mir diese Frage inzwischen nicht mehr. Unzählige Umstände fallen mir ein, die eine solche Entscheidung begründen können. Ich hege keinen Groll gegen die leibliche Mutter meiner Kinder – wie könnte ich? Sie hat sich dafür entschieden, die Babys trotz ihrer extrem komplizierten Lebensumstände auszutragen und diesen Geschöpfen, die uns das Wichtigste auf der Welt sind, das Leben zu schenken. Sie hat ihnen sogar Namen gegeben. Ich weiß nicht viel über diese Frau, aber allein für diese mutigen Entscheidungen verdient sie meinen Respekt und meine Dankbarkeit.
Nachdem wir dreieinhalb Jahre unsere erste Tochter begleitet haben und seit drei Monaten unser Sohn die Familie mit seinem Lächeln, Strampeln und unvergleichlichen Babyduft bereichert, können wir uns nicht vorstellen, dass man ein leibliches Kind mehr lieben kann als wir diese zwei.
(Silvia)